Freitag, 30. Mai 2014
Eigentor
Auf der Schulter wachsen Haare, keine Haare auf dem Kopf, aber auf der Schulter, das sollte ihm zu denken geben, dachte Herr Braun. Aber was sollte ihm das zu denken geben, fragte sich Herr Braun. Herrn Braun fiel nichts ein. Alles was ihm durch den Kopf ging, war, dass er mit seiner Mutter verabredet und spät dran war, wie ein kurzer Blick auf die Küchenuhr zeigte. Auch wenn diese mindestens fünfzehn Minuten vorging, so blieben unvermeidliche zwanzig Minuten Verspätung. Sie würde ihm diese Schnöselei unter die Nase reiben und als Vorwand nehmen, ihn erneut für seinen ungezwungenen Lebensstil zurecht zu weisen. Unter Umständen würde sie ihn nicht einladen, was das Schlimmste war, dachte Herr Braun. Herr Brauns Mutter wohnte in einem Seniorenstift außerhalb der Stadt, sehr weit außerhalb der Stadt, und sie trafen sich einmal in der Woche in einem kleinen, muffigen Café in Charlottenburg. Hier habe ich deinen Vater kennengelernt, erzählte sie jedes Mal. Hier lernte ich deinen Vater kennen und lieben, behauptete sie stets aufs Neue und vergaß, dass er seinen Vater nie kennengelernt und folglich nie lieben gelernt hatte. Eine Tatsache, die Herrn Braun nicht gefiel, erinnerte sie ihn doch daran, dass er auch seine Mutter nie wirklich kennen und ebenso tatsächlich nicht lieben gelernt hatte. Er wusste sogar nicht einmal, ob er sie mochte würde oder überhaupt irgendwann mögen könnte. Wie konnte das nur sein, fragte sich Herr Braun. Herr Braun wusste keine Antwort, aber er wusste, dass der Bus in sieben Minuten fuhr, und er sich beeilen musste. Er eilte also aus dem Erdgeschoss seines gottverlassenen Gartenhauses und sparte Zeit, indem er auf das Abschließen verzichtete, eine Maßnahme, die ihm zur Gewohnheit geworden war, seit er eines Nachmittags seine Wohnungstür aufgebrochen vorfand, und er den Schaden selbst hatte zahlen sollen, behauptete doch sein Vermieter, Herr Braun persönlich hätte der Tür, die seit hundert Jahren allen Stürmen getrotzt hätte, den Garaus gemacht. Herr Braun glaubte an ein Komplott und erklärte, die Miete nicht zahlen zu wollen, bis die Tür repariert sei. Das geschah vor drei Monaten. Danach geschah nichts weiter.

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