Dienstag, 16. September 2014
ZAHLEN!
Ich habe keine Kraft, dachte Herr Braun. Er saß in dem kleinen muffigen Café und wartete. Immer kam sie zu spät. Immer. Immer, dachte er, er käme zu spät und hetzte sich und dann war es doch immer sie, die noch später kam. Er hatte Rita heute mitnehmen wollen, aber nicht den Mut aufgebracht. Warum fühle ich mich bloß so kraftlos, dachte Herr Braun abermals als eine schmale Person an den Tisch trat, an den Tisch, an dem er und seine Mutter stets saßen, wenn sie sich an diesem Ort trafen. Die Bedienung kannte ihn und kannte seine Mutter und wusste um das gleichmütige Prozedere zwischen ihnen. Ihr Aussehen war diesem Ereignis angemessen. Das farblos wellige Haar trug sie hochgesteckt, das eingefallene Gesicht ungeschminkt, an den Füßen keine Absätze, was ihrem Gang jede Spannung nahm und ihre schlurfende Persönlichkeit vollendet zur Geltung brachte. Um die Hüfte wehte ein knöchellanger schwarzer Rock und darüber schlappte eine weiße Bluse mit blumigen Rüschen an den Ärmeln und einem Ausschnitt, der nichts offenbarte, weil es offenbar nichts zu offenbaren gab. Diese auf Herrn Braun sehr anziehend wirkende Person fragte nun wie gewohnt Was darf es sein? Und auch Herr Braun kannte seinen Text. Soll es ein Schnaps sein? fragte die Person darauf und er sagte wie von selbst: Ja, eine gute Idee und sogar Danke sagte er. Nach dem dritten Schnaps trat seine Mutter ins Café und marschierte flott im Schottenkarokostüm durch den Saal. Hast du dir wieder nicht die Fingernägel geschnitten, du Ferkel, waren ihre ersten Worte. Herr Braun machte der Bedienung ein bekanntes Zeichen. Kurz darauf kamen ein Kännchen Mokka mit Sahne, ein Stück Kirschkuchen ohne Sahne und ein Schnaps. Du brauchst dringend eine Frau, sagte seine Mutter, eine Frau würde dich retten, dich vor dir selbst retten. Du bist schwach und nutzlos. Ich weiß gar nicht, wie du überleben konntest. Wie kann man ohne … Herr Braun kannte diese Lektionen bereits, er hatte sie des Öfteren ungeduldig studiert und er war zu der Auffassung gelangt, dass dieses Studium verschwendete Zeit gewesen war. Nach dem achten Schnaps war er sich dieser Überzeugung noch gewisser und er tat ihren Irrtum, hatte sie doch tatsächlich keine Gelegenheit gehabt, seine Rita kennen zu lernen, was ebenso gewiss mit einem Schlag alles ändern würde zwischen ihnen, als einen schlechthin allgemein bekannten Mutterirrsinn ab. Herr Braun betrachtete erregt das zierliche Glas in seiner linken Hand, das seinem Ideal von einer Vaginalform sehr nahe kam, und wollte schon der Bedienung am Tresen erneut zunicken, als eine laute und unmissverständliche Stimme vom Platz gegenüber aus in die Tiefe des leeren Raumes rief ZAHLEN!

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