Mittwoch, 15. Oktober 2014
Babylon
Reste der herbstlichen Morgenröte spiegelten sich noch träumerisch in den verschmutzten Schaufenstern der Dresdner, trotzdem war der Fahrweg bereits gut gefüllt und nur durch geschickte Slalommanöver zugänglich. Herr Braun war kein Freund des Autoverkehrs, doch er bedauerte aufrichtig jede Kreatur, die ihren Blechhaufen hier zu manövrieren hatte. Im Eingang seines ehemaligen Lieblingskinos hatte er etwas Halt im Stand gefunden, doch bald schon sackte er erneut in den Kniekehlen zusammen, wie eine Marionette, deren Fäden achtlos fallen gelassen wurden. What a mess! Wow. Isnt it amazing? Wie aus dem Nichts hatte zwei Meter vor ihm ein herausgeputztes Völkchen den Bürgersteig besiedelt. Als wären sie unerwartet auf die Überreste Babylons gestoßen, ließen sie ihre wollüstigen Blicke umher streunen. Inmitten von fünf Männern jüngeren Datums, akkurat und gepflegt im Bartmodus unterwegs, erkannte Herr Braun eine zierliche, haselbraunäugige Mädchengestalt von ausgesuchter Schüchternheit. Sie schwieg als einzige und blickte in sich gekehrt um sich, als suche sie einen Fluchtweg. Vielleicht muss sie auf die Toilette, dachte Herr Braun und wollte etwas sagen, aber er brachte nur einen leisen, unartigen Rülpser zustande, der jedoch genügte, die Gruppe auf sich aufmerksam zu machen. Hey, see there, a tramp. How lovely! Beinahe gleichzeitig kam bei jedem von ihnen ein befremdlicher Apparat zum Vorschein, kaum größer als ein Schokoladenriegel. Umstandslos begannen sie ihn mit Blitzlicht zu beschießen. Nüchtern glaubte Herr Braun nicht unbedingt an Außerirdische, nicht so lautstark überzeugt jedenfalls wie manch anderer, der sich ihm auf seinen nächtlichen Erkundigungen anvertraute. Aber nach zwei oder drei Runden in alkoholischer Umgebung ließ er über Zweifel mit sich reden. Das Mädchen wollte den Moment der Ablenkung offenbar nutzen und sich aus dem Gelümmmel davon stehlen, scheinbar auf die andere Straßenseite, eventuell um Hilfe zu holen, dachte Herr Braun, schon erreichte sie den Bordsteinrand, als eine Hand sie an der Schulter packte. Sie wandte sich geschmeidig um und offenbarte eine unvermutete Traurigkeit. Herr Braun war beglückt. Auch sie litt, auch sie war ein Mensch, dachte er und wollte aufspringen, um ihr beizustehen. Nun, es gelang ihm nicht. Eine Ewigkeit verging bis er auf seinen zwei Beinen zu stehen kam. Bambi war da längst fort.

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