Montag, 16. Juni 2014
Nassrasur
Er sollte einen Roman schreiben, dachte Herr Braun, einen Roman über seine Mutter. Mutter würde er heißen, der Roman. Nur einfach Mutter, nichts weiter und alle würden verstehen. Im Grunde brauchte es den Roman gar nicht, der Titel allein genügte. Dieses Wort sagt mehr als alle anderen, aber ein Roman ohne viele Worte wäre nicht vielversprechend, und mehr als alles andere wollte er vielversprechend sein, so sein, wie seine Mutter ihn sich wünschte. Seine Mutter war wunderbar geeignet für einen Roman ohne viele Worte. Sie war der geizigste und kleinkarierteste Mensch, der ihm je zu nahe gekommen war, noch geiziger und kleinkarierter als sein Vermieter. In diesem Roman würde er sich jedenfalls von seiner großzügigen Seite zeigen können. Dessen war er sicher. Keine Kleinkariertheit würde er auslassen und sei diese Kleinkariertheit noch so kleinkariert. Dieser Roman würde seine innere Ödnis noch tiefer erden. Er wird umgehend seiner Mutter davon erzählen, dachte Herr Braun. Sie wird begeistert sein, womöglich stolz, ihr Sohn ein Romanautor, das wäre eine neue Richtung, eine richtige Entwicklung, man konnte ja nie wissen, wenigstens würde diese Wendung einschlagen bei ihr, dachte Herr Braun laut, wie er es stets gern tat, wenn niemand anderer gegenwärtig war, was fast immer der Fall war, denn für gewöhnlich sprach er nur zu sich allein mit innerem Wohlgefallen: Wie eine Granate wird die Idee bei Mutter einschlagen und Mutter wird meine Idee und jeden weiteren Gedanken, der um diese Idee kreist, in der Luft zerreißen. In Nanoteilchen ins Weltall gepustet von der Druckwelle ihrer Abscheu, schrie Herr Braun förmlich hinaus und hingerissen von sich selbst gelangte er in dem selben Augenblick, indem er das bizarr blutige Antlitz im Toilettenspiegel, der im Flur an einem wackligen Heizungsventil befestigt war, als sein eigenes wieder erkannte, zu dem Schluss, sich wieder einen Bart wachsen zu lassen. Das nach Mutters Überfall aufgenommene, wöchentliche Experiment mit dem Rasiermesser war denn doch zu abenteuerlich für eine bange Natur wie die seine.

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Freitag, 6. Juni 2014
Überfall
An einem verfrühten Vormittag stand völlig unvorhersehbar eine Person vor der desolaten Wohnungstür des Herrn Braun. Hier ist es aber dreckig, sagte diese Person und blickte mit aufrichtigem Ekel zu ihm hinein. Herr Braun fühlte sich noch benommen, er war es nicht gewohnt vor dem Frühstück in Haushaltsfragen konsultiert zu werden, im Grunde war er es in keiner Weise gewohnt, wunderte sich noch darüber in seiner Benommenheit und fragte sich, wie spät es wohl sei, aber mehr konnte er in der Situation, die eine glasklare Überfallsituation darstellte, dessen war er sicher, nicht leisten. In der Nacht davor war es spät geworden, so spät, dass er vergessen hatte, warum es so spät geworden war. Herr Braun musste darum an seinem Geschlecht fummeln. Das Fummeln beruhigte sein in Unordnung geratenes Nervenkostüm und ließ ihn denken. Nach einer kurzen Weile zog er verlegen seine Hand ab und reichte sie unbeholfen der Person, die offensichtlich zu allem entschlossen sich vor ihm aufgebaut hatte. Diese Person trug ein altmodisches grün kariertes Kostüm und einen Stahlhelm ähnlichen Hut auf dem unscheinbaren grauen Haar. Mutter, sagte er. Ja, ja, sagte die Person ohne von der Hand Notiz zu nehmen, nur keine Umstände, ich komm‘ dann mal rein, wenns recht ist. Zieh‘ dir mal was über. Und so geschah es.

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Freitag, 30. Mai 2014
Eigentor
Auf der Schulter wachsen Haare, keine Haare auf dem Kopf, aber auf der Schulter, das sollte ihm zu denken geben, dachte Herr Braun. Aber was sollte ihm das zu denken geben, fragte sich Herr Braun. Herrn Braun fiel nichts ein. Alles was ihm durch den Kopf ging, war, dass er mit seiner Mutter verabredet und spät dran war, wie ein kurzer Blick auf die Küchenuhr zeigte. Auch wenn diese mindestens fünfzehn Minuten vorging, so blieben unvermeidliche zwanzig Minuten Verspätung. Sie würde ihm diese Schnöselei unter die Nase reiben und als Vorwand nehmen, ihn erneut für seinen ungezwungenen Lebensstil zurecht zu weisen. Unter Umständen würde sie ihn nicht einladen, was das Schlimmste war, dachte Herr Braun. Herr Brauns Mutter wohnte in einem Seniorenstift außerhalb der Stadt, sehr weit außerhalb der Stadt, und sie trafen sich einmal in der Woche in einem kleinen, muffigen Café in Charlottenburg. Hier habe ich deinen Vater kennengelernt, erzählte sie jedes Mal. Hier lernte ich deinen Vater kennen und lieben, behauptete sie stets aufs Neue und vergaß, dass er seinen Vater nie kennengelernt und folglich nie lieben gelernt hatte. Eine Tatsache, die Herrn Braun nicht gefiel, erinnerte sie ihn doch daran, dass er auch seine Mutter nie wirklich kennen und ebenso tatsächlich nicht lieben gelernt hatte. Er wusste sogar nicht einmal, ob er sie mochte würde oder überhaupt irgendwann mögen könnte. Wie konnte das nur sein, fragte sich Herr Braun. Herr Braun wusste keine Antwort, aber er wusste, dass der Bus in sieben Minuten fuhr, und er sich beeilen musste. Er eilte also aus dem Erdgeschoss seines gottverlassenen Gartenhauses und sparte Zeit, indem er auf das Abschließen verzichtete, eine Maßnahme, die ihm zur Gewohnheit geworden war, seit er eines Nachmittags seine Wohnungstür aufgebrochen vorfand, und er den Schaden selbst hatte zahlen sollen, behauptete doch sein Vermieter, Herr Braun persönlich hätte der Tür, die seit hundert Jahren allen Stürmen getrotzt hätte, den Garaus gemacht. Herr Braun glaubte an ein Komplott und erklärte, die Miete nicht zahlen zu wollen, bis die Tür repariert sei. Das geschah vor drei Monaten. Danach geschah nichts weiter.

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