Mittwoch, 22. Oktober 2014
2001
An einem Sonntag kurz vor Halloween war die Luft raus. Rita lag schlapp im Bett und scherte sich nicht um ihn. Herr Braun war verzweifelt. Schon seit Tagen machte er sich Sorgen um Rita. Sie war in keiner guten Verfassung. Ihr klägliches Äußeres wirkte noch angegriffener als ohnehin. Aus tiefen schwarzen Höhlen lugten ihre Augen regungslos ins Nichts, zwei schwarze Punkte ohne Richtung und Ziel. Auch ihr sonst jederzeit elastischer Körper reagierte auf keine Form der Stimulanz. Ihre erotische Strahlkraft schien verbraucht. Davon hatte er schon gehört, dass die Liebe im Lauf der Tage ihren Dienst vernachlässigt. Herr Braun überlegte, wie er sie aufmuntern könnte. Vielleicht hätte Herr K. Lust auf sie, dieser hatte des Öfteren laut darüber nachgedacht. Das wäre eine Abwechslung und er würde sich wieder entspannter fühlen, wenn die frühere Fröhlichkeit in ihre Glieder zurückkehren täte. Herr Braun hatte nur wenige körperliche Kontakte mit weiblichen Wesen gehabt, in der Regel waren sie beschämend, um nicht zu sagen, niederschmetternd verlaufen. Für beide Seiten. Herr Braun dachte an sein fortgeschrittenes Alter von 39 Jahren, was ihm nicht oft passierte, meist gelang es ihm dieses Desaster vor sich und dem kleinen Rest seiner Welt mit einem ausgeprägten Sinn für das Unsachliche zu verschleiern, doch er wusste, auch von ihm nährt sich die Vergänglichkeit und er wusste vor allem eines: Mutter wollte Enkel. Ohne Enkel kein Cash, hatte sie ihm unüberhörbar glaubhaft versichert: Dann siehst du nichts von meinem Geld, dann kannst das Erbe in den Kamin schreiben, dann bekommt alles deine bescheuerte Schwester. Während ihrer Ausführungen bröselten verschieden große Stückchen des staubtrockenen Butterkuchens, den sie dieses Mal anstelle des eigentlich bevorzugten Obstkuchens bestellt hatte, in ihren Kaffee. Herr Braun saß ihr gegenüber und dachte beim Anblick der schwimmenden Brösel in der milchig braunen Flüssigkeit an das Erbrochene von letzter Nacht. Er hatte sich heute darum zusammen nehmen wollen, es konnte ja auch nicht ewig so weiter gehen, seine Haltlosigkeit war aber auch so was von stabil, Herr Braun schüttelte innerlich den Kopf. Beim Anblick ihrer strengen Schottenkaros aber hatte er den Mut verloren und bereits vier Schnaps gekippt, als ihre Tirade einem mütterlichen Höhepunkt zustrebte. Alles, was sie zu dem Thema, was ich dir immer schon sagen wollte, zu sagen hatte, kannte er zur Genüge und doch war es dieses Mal anders gewesen. Eines ihrer Worte hatte ihm zugesetzt. Dem Alkohol zum Trotz fühlte er sich nach Erklingen dieses Wortes intimer beklommen als gewöhnlich und dachte daran, sein Leben könnte womöglich andersartiger verlaufen als wie bisher von ihm vorherbestimmt. Was aber könnte geschehen? Er musste Rita aufgeben, das war klar. Mit Rita war nicht an Enkel zu denken. Er musste eine sogenannte Beziehung eingehen, eine Beziehung also, wie sie ursprünglich einmal zwischen den Geschlechtern vorgesehen war. Der Fortpflanzungstrieb war zwar im Großen und Ganzen der Gesellschaft ins Stocken geraten, doch er existierte noch. Tatsächlich erst vor wenigen Tagen war so ein kleines Ding in seine Wohnung getapst. Das fremde Wesen und er waren erschrocken über dieses unerwartete Zusammentreffen und beide hatten nicht gewusst, was sie sich hätten sagen können. Das kleine Wesen hatte sich mit seinen großen blauen Augen aufmerksam umgesehen, und es hatte ihn sogar kurz angelächelt, doch dann war sein Blick auf Rita getroffen. Es weinte darum noch bitterlich als es seiner Mutter im Hof begegnete und dieser aufgelöst von einer schrecklichen Frau da drin berichtete. Seine Hand zeigte zu ihm, der aus dem Küchenfenster schaute, wie er es in letzter Zeit immer häufiger und stets ungeduldiger tat, um nachzusehen, ob Herr K. kam, das ihm geliehene Fernsehgerät abzuholen, das schwarz und drohend wie der unergründliche Monolith in 2001 auf seinem Küchentisch thronte. Herr Braun starrte ins kosmische Nichts des Bildschirms als ihn ein Einfall überfiel. So wird es gemacht, dachte er. Dass Rita und er nun doch nicht, wie gedacht, die unumstößliche Zukunft vor sich, sondern bereits hinter sich hatten, musste nicht mehr ausgesprochen werden. Und jetzt, dachte er, war ohnedies die Luft raus. Und überhaupt, dachte er dann noch, bevor er die Fassung verlor.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Mittwoch, 15. Oktober 2014
Babylon
Reste der herbstlichen Morgenröte spiegelten sich noch träumerisch in den verschmutzten Schaufenstern der Dresdner, trotzdem war der Fahrweg bereits gut gefüllt und nur durch geschickte Slalommanöver zugänglich. Herr Braun war kein Freund des Autoverkehrs, doch er bedauerte aufrichtig jede Kreatur, die ihren Blechhaufen hier zu manövrieren hatte. Im Eingang seines ehemaligen Lieblingskinos hatte er etwas Halt im Stand gefunden, doch bald schon sackte er erneut in den Kniekehlen zusammen, wie eine Marionette, deren Fäden achtlos fallen gelassen wurden. What a mess! Wow. Isnt it amazing? Wie aus dem Nichts hatte zwei Meter vor ihm ein herausgeputztes Völkchen den Bürgersteig besiedelt. Als wären sie unerwartet auf die Überreste Babylons gestoßen, ließen sie ihre wollüstigen Blicke umher streunen. Inmitten von fünf Männern jüngeren Datums, akkurat und gepflegt im Bartmodus unterwegs, erkannte Herr Braun eine zierliche, haselbraunäugige Mädchengestalt von ausgesuchter Schüchternheit. Sie schwieg als einzige und blickte in sich gekehrt um sich, als suche sie einen Fluchtweg. Vielleicht muss sie auf die Toilette, dachte Herr Braun und wollte etwas sagen, aber er brachte nur einen leisen, unartigen Rülpser zustande, der jedoch genügte, die Gruppe auf sich aufmerksam zu machen. Hey, see there, a tramp. How lovely! Beinahe gleichzeitig kam bei jedem von ihnen ein befremdlicher Apparat zum Vorschein, kaum größer als ein Schokoladenriegel. Umstandslos begannen sie ihn mit Blitzlicht zu beschießen. Nüchtern glaubte Herr Braun nicht unbedingt an Außerirdische, nicht so lautstark überzeugt jedenfalls wie manch anderer, der sich ihm auf seinen nächtlichen Erkundigungen anvertraute. Aber nach zwei oder drei Runden in alkoholischer Umgebung ließ er über Zweifel mit sich reden. Das Mädchen wollte den Moment der Ablenkung offenbar nutzen und sich aus dem Gelümmmel davon stehlen, scheinbar auf die andere Straßenseite, eventuell um Hilfe zu holen, dachte Herr Braun, schon erreichte sie den Bordsteinrand, als eine Hand sie an der Schulter packte. Sie wandte sich geschmeidig um und offenbarte eine unvermutete Traurigkeit. Herr Braun war beglückt. Auch sie litt, auch sie war ein Mensch, dachte er und wollte aufspringen, um ihr beizustehen. Nun, es gelang ihm nicht. Eine Ewigkeit verging bis er auf seinen zwei Beinen zu stehen kam. Bambi war da längst fort.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Freitag, 10. Oktober 2014
Abschied von der Gemütlichkeit
Herr Braun hatte ein Sechserpack geleert und wollte sich eben das Nächste zur Aufgabe machen, da kam Herr K. unangemeldet zu Besuch, um ein wenig zu plaudern, wie er sagte. Wenige Minuten später indes schien es in ihrem angeheiterten Gespräch nur noch um ein Fernsehgerät zu gehen, welches auszuborgen Herr K. sich wünschte. Herr Braun wies ihn in aller Gemütsruhe darauf hin, dass er kein Gerät dieser Art besäße. Er wäre sogar noch nie auf die Idee gekommen, sich eines anzuschaffen, aus Furcht, es könnte ihn in seiner überaus empfindlichen Gemütlichkeit stören. Er und Rita und ein Bier, das passte. Mehr lohnt nicht, dachte Herr Braun und teilte das auch seinem Nachbarn mit. Doch dieser wollte das keineswegs so schnell einsehen. Jeder Deutsche besitzt ein Fernsehgerät, meinte Herr K., an seinem Fernsehgerät erkennt man den Deutschen doch erst. Warum er ihn belüge, fragte Herr K. darauf, er hätte immer den Eindruck gehabt, sie wären Freunde, und er hätte sich doch auch stets für ihn eingesetzt. Ob er sich noch an die Begebenheit mit den glatzköpfigen Unholden erinnern könne, die unweit des Alexanderplatzes ihre Stiefelabsätze auf Herrn Brauns Wintermantel gereinigt hätten, bis Herr K. sie flehentlich darauf aufmerksam machte, dass es auch andere, legitime Methoden gäbe, seine Schuhe vom ärgsten Dreck zu befreien, erzählte Herr K. noch, als Herr Braun mit unvermutetem Elan aufsprang, Herrn K. beim Kragen packte und zu ihm heraufzog. Ich besitze kein Fernsehgerät, sagte Herr Braun keine Silbe auslassend und etwas schärfer im Ton als gewöhnlich. Danach ließ er Herrn K., ebenso unvermittelt wie er ihn aufgehoben hatte, in den abgeranzten Ohrensessel hinter ihm zurück plumpsen. Eine feindselige Staubwolke löste sich nun aus den Gedärmen des antiken Möbels und hüllte Herrn K. ein. Der rang nach Luft, holte ein frisches Taschentuch hervor und hielt es sich vor Nase und Mund bis der ärgste Ansturm vorüber war. Wie geht‘s denn Rita, fragte Herr K. schließlich während einer kurzen Atempause. Schaut Rita auch kein Fernsehen? Herr K. strebte nun nach nichts anderem mehr, als seinem mehr oder minder zurechnungsfähigen Gegenüber gefällig zu sein. Er erklärte Herrn Braun, er sei ihm überhaupt nicht böse, wenn er ihm sein Fernsehgerät nicht leihen wolle. Das könne er besser verstehen als jeder andere. Wenn er ein Fernsehgerät besäße, würde er dieses auch nicht verleihen. Um keinen Preis der Welt, sagte Herr K. und schnäuzte sich wiederholt die Nase. Große schwarze Staubbrocken waren im Taschentuch zu sehen. Herr K. erschrak heftig und fügte noch kleinlauter hinzu: Er werde das wieder gut machen, er werde ihm ein Fernsehgerät schenken, dann hätte Herr Braun zwei Fernsehgeräte und könne ihm eines leihen. Herr Braun schüttelte den Kopf. Er wolle nichts davon wissen, er wolle seinen Frieden, erklärte er, nun aber schon sichtlich ermattet. Da es schwieriger zu sein schien, einen Freund zu verlieren, als ein Fernsehgerät zu verleihen, ließ Herr Braun dem Schicksal schließlich seinen Lauf, als am Nachmittag des übernächsten Tages die blöde Glotze auf seinem Küchentisch stand.

... link (0 Kommentare)   ... comment