Mittwoch, 9. Dezember 2015
Kariertes Wiedersehen
Das Wiedersehen hatte er sich anders vorgestellt. Darauf war er nicht vorbereitet. Die Welt hatte sich verändert. Alles schien ihm kariert irgendwie. Und farblos. Schwarzweißkariert. Warum kariert, fragt er sich, warum nicht gestreift? Nach einer kurzen Phase der Besinnung erkannte er sich im Bett liegend, wie er auf einen Vorhang starrte, der sein Bett umgab. So, da bin ich ja wieder, dachte er verwundert. Herr Braun hatte Durst. Großen Durst. Seine Glieder schmerzten zwar bei der geringsten Bewegung, er wollte aber trotzdem zu einer Flasche greifen, die neben dem Bett auf einem kleinen Tisch stand. Die Flasche kippte um und fiel auf den Boden. Ein leiser Plastik-Plumps war zu hören und ein dezentes Rollen der Flasche ins Unerreichbare. Herr Braun wollte schon rufen, aber wen? Wo war er denn überhaupt? Was war geschehen mit ihm? Gestern war er noch als Weihnachtsmann unterwegs gewesen. Von Haus zu Haus in Frohnau. Was für ein dummer Job. All diese Kinder. Du siehst nicht aus wie ein Weihnachtsmann! Du siehst aus wie ein Penner, hat mein Papi gesagt. Meine Mama sagt, du stinkst. Warum stinkst du? Und dann war er gestolpert und gefallen. Tief gefallen, das wusste er noch, eine marmorne Treppe herunter. Dich gibts doch gar nicht, hörte er noch einen Jungen krähen, verpiss dich! Rumms. Die Tür sauste zu, traf ihn wohl am Kopf, er war so unvorsichtig gewesen, beim Öffnen der Tür sich bereits für sein Eintreten devot vorzubeugen, weil er annahm, er sei willkommen. Dabei waren er und seine Kollegen strikt angewiesen worden, nie davon auszugehen, willkommen zu sein. Immer erst warten, bis man herein gebeten wurde. Niemals vorher! Plötzlich verschwand die karierte Welt, der Vorhang war beseite gezogen worden, grell stechendes Licht drang herein, ein Engel erschien. Nicht schon wieder, dachte Herr Braun.

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Freitag, 26. Juni 2015
Koma
Der Schweiß rann in kleinen wirren Bächlein über die Stirn. Die Augen brannten. Herr Braun versuchte einen seiner Arme zu heben und den Schweiß beiseite zu wischen. Doch gelang es ihm nicht. Beide Arme hingen fest, wie angenagelt. Kurz blinzelte er und sah wie durch einen glitzernden Vorhang einen Mann neben sich auf dem Bett sitzen. Der Mann trug einen roten, wattierten Kapuzenmantel und um das Kinn herum einen langen, weißen Bart. Die Schwester meinte, sie seien wach, sagte der Mann. Welche Schwester, fragte sich Herr Braun. Meine Schwester, um Gottes Willen, wieso ist die hier? Drei Wochen lagen sie im Koma, sagte der Mann im roten Mantel. Erkennen Sie ihren Mantel, ihren Bart?. Wir haben heute eine kleine Feier, da haben wir uns nichts dabei gedacht und ihr Kostüm ausgeliehen, sie haben doch nichts dagegen, nein, wieso auch, nicht wahr. Ihr Puls ist gut, soweit ist alles klar. Alles andere kommt bei ihnen auch wieder in Ordnung, Herr Braun, da bin ich zuversichtlich. Natürlich kann das dauern, das dauert ja immer, das hängt ganz von ihnen ab, aber sie schaffen das. Nun muss ich aber schnell zurück, die Pflicht ruft. Sie kennen das ja, sagte der fremde Mann, der inzwischen aufgestanden war, mit einem hohlen Grinsen zwischen den weiß blitzenden Zähnen. Und auch Herr Braun verschwand aufs Neue, tief versunken in der unerhörten Schwermut seiner Nacht.

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Dienstag, 20. Januar 2015
Nikolaus
Herr Braun, da sind Sie ja endlich, hallo, kommen Sie herein, setzen Sie sich bitte. Schön, dass Sie Zeit gefunden haben zu einem kleinen Plausch unter Kollegen. Nein, bitte nicht dort hinten auf den kleinen Hocker, der bricht ja fast zusammen. Außerdem sehe ich Sie da kaum. Kommen Sie doch zu mir an den Schreibtisch, hier steht ein gemütlicher Sessel, der scheint wie für Sie gemacht. Bitte, Herr Braun, zieren Sie sich doch nicht. Also, na gut, wenn Sie es wünschen, bleiben Sie dort hinten sitzen. Dann komme ich eben zu Ihnen. Herr Braun, warum ich Sie zu mir gebeten habe, hat einen einfachen Grund. Sie sind jetzt zwei Tage bei uns und natürlich erwarten wir nicht, dass Sie sich schon voll und ganz bei uns eingelebt haben. Die Auswahl der Waren ist vielfältig und natürlich müssen Sie sich vertraut machen mit den Umständen unter denen diese angeboten werden, aber ein Entgegenkommen von Ihrer Seite ist auch erforderlich. Wie man mir berichtete, sind Sie gestern und vorgestern zwei Stunden zu spät gekommen. Gut, Sie haben dann sogar im Lager geschlafen, wohl um morgens pünktlich zur Stelle zu sein, wie ich glauben möchte, aber dann waren Sie doch wieder zu spät. Und dazu noch angetrunken. Herr Braun, Sie müssen wissen, ich bin kein Fanatiker, aber Ihre allgemeine Einstellung lässt etwas zu wünschen übrig und mich die Frage stellen, ob Sie sich bewusst sind, ob der Chance, die Ihnen hier geboten wird. Ihre Frau Mutter war selbst lange im Geschäft tätig und hat Sie uns empfohlen, wenn auch mit einer gewissen Zurückhaltung, wie ich hinzufügen muss. Sie sagte, Sie wären krankheitsbedingt längere Zeit beeinträchtigt gewesen, Sie hätten dieses schwierige Kapitel aber hinter sich gelassen und wären bereit Ihr Leben neu aufzustellen. Ihre Frau Mutter ist eine gute Frau, auch eine harte Frau, ich weiß, aber vor allem eine Frau, der man einen Gefallen nicht abschlägt. Nur darum sind Sie hier. Natürlich ist es schwierig am Anfang in diesem lächerlichen Kostüm auf dem Trottoir eine gute Figur zu machen, aber meinen Sie nicht, Sie könnten es wenigstens einmal probieren? Oder muss ich Ihrer Frau Mutter berichten, dass Sie der Aufgabe nicht gewachsen sind? Das wollen wir doch nicht, nicht wirklich oder? Nein, oder?

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